Bist du harmoniesüchtig?

Harmonie ist wichtig. Aber wenn sie über allem anderen steht, läuft man in Gefahr, sich den Erwartungen aller anderen unterzuordnen.

Weißt du, was ein Harmoniestreber ist? Das Wort „Streber“ hat bei den meisten von uns wohl einen negativen Beigeschmack. Aber anders als die unbeliebten Klassenkamerad*innen aus Schulzeiten sind Harmoniestreber*innen meistens ziemlich beliebt. Es geht ihnen nämlich nicht darum, die besten Zensuren einzufahren und andere auszustechen. Sie agieren nicht egoistisch, sie stoßen auch niemanden vor den Kopf. Im Gegenteil! Diese Charaktere wollen möglichst alle Erwartungen ihrer Mitmenschen erfüllen.

Vielleicht kennst du so jemandem aus deinem Freundes- und Kollegenkreis, vielleicht findest du dich auch selbst in der Beschreibung wieder: Harmoniestreber*innen sind sie diejenigen, die niemals muffelig irgendwo auflaufen und andere mit ihrer schlechten Laune nerven. Sie erkundigen sich immer, wie es ihrem Gegenüber geht. Ist jemand betrübt, wollen sie ihn aufmuntern. Überhaupt versprühen sie oft viel Heiterkeit und Wärme.
Das wirkt bei ihnen auch nicht aufgezwungen oder übertrieben. Es entspricht einfach ihrem angeborenen Temperament. Wir alle kommen mit bestimmten genetischen Anlagen auf die Welt. Menschen, die stark nach Harmonie streben, haben meistens ein friedfertiges, sensibles und sanftmütiges Naturell. Der Wunsch nach Bindung – einem unserer psychologischen Grundbedürfnisse – ist bei ihnen stärker ausgeprägt als der Wunsch nach Unabhängigkeit. Dementsprechend stark passen sie sich an. Ein typischer Satz über solche Persönlichkeiten lautet: „Der kommt mit allen klar“ oder „Die findet jeder nett“.

Klingt wunderbar? Nicht ganz. Die Frage ist nämlich, wie weit diese harmonieliebenden Persönlichkeiten in ihrem Wunsch nach Gleichklang gehen. Wenn diese Charaktere in ihrer Kindheit erfahren haben, dass sie Zuwendung bekommen, wenn sie die Erwartungen ihrer Bezugspersonen erfüllen, wird aus diesem „Lieb-Kind-Prinzip“ oftmals eine Schutzstrategie im Erwachsenenalter, um weiterhin Anerkennung zu bekommen. Um sich überhaupt bestmöglich anpassen zu können, haben die Harmoniestrebenden schon früh gelernt, auf ihre eigenen Wünsche und Gefühle keine Rücksicht zu nehmen und sie gegebenenfalls zu unterdrücken. Mit der Zeit verlernen sie dann tatsächlich, ihre eigenen Ziele zu definieren und Entscheidungen zu formulieren. Viele verzetteln sich auch in ihrem Wunsch, es allen recht zu machen. Sie machen Zusagen, die sie nicht einhalten können. Sie verschweigen Probleme, bis es nicht mehr machbar ist. Oft geht es um Kleinigkeiten, die sich eigentlich schnell klären ließen, wenn die Betroffenen eine klare Ansage machen könnten.

Die Harmoniesucht kann auch deshalb zu Problemen führen, weil die Betroffenen zwar einerseits ständig mit ihren Gedanken und Bedürfnissen hinterm Berg halten, dadurch aber häufig das Gefühl haben, selbst zu kurz zu kommen. In Beziehungen erwarten sie oftmals, dass man ihre Wünsche einfach erkennt. Ist das nicht der Fall, sind sie gekränkt.

Als Psychotherapeutin habe ich mit solchen Menschen geübt, ihr Harmoniestreben in angemessene Bahnen zu führen. Niemand soll seine liebenswerte Persönlichkeit verleugnen! Es ist wunderbar, wenn man mit seinen Mitmenschen auskommen will und ein Teamplayer ist. Aber die Harmoniestrebenden müssen lernen, ihre eigenen Anliegen zu formulieren. Ich frage diese Menschen dann unter anderem nach ihren höheren Werten und bitte sie, diese als Leitfaden zu nehmen: Ist es beispielsweise aufrichtig, heikle Dinge einfach zu verschweigen? Ist es nicht authentisch, auch die eigene Meinung kundzutun? Gehört es zu Freundschaften nicht dazu, offen über unterschiedliche Ziele und Träume zu reden?

Es ist ein Irrtum anzunehmen, dass man durch klare Ansagen Sympathiepunkte verliert. Im Gegenteil. Weil man dadurch für Mitmenschen leichter greifbar und transparenter wird, verbessern sich viele Beziehungen sogar. Und der Stress, es allen recht machen zu müssen, fällt dann auch weg.

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