Wer in einen bindungsängstlichen Menschen verliebt ist, leidet oft sehr unter dem Auf und Ab der Gefühle. Die Partner und Partnerinnen von solchen Persönlichkeiten erleben einen ständigen Wechsel zwischen stürmischer Verliebtheit, Rückzug, Verzweiflung und Wut. Oft fragen sie sich: Sollen sie das Drama aushalten und dem Ganzen eine Chance geben? Oder lieber gehen?
Hier kommen fünf Erste-Hilfe-Tipps für einen reflektierten Umgang mit dieser schwierigen Situation:
Tipp 1: Sieh der Realität ins Auge!
Wenn mir Klient*innen von ihrer Beziehung zu einem bindungsängstlichen Partner erzählen, könnte man manchmal den Eindruck gewinnen, sie hätten ein schlechtes Gedächtnis. Sie gewichten die „Sonnenstunden“ der Beziehung übermäßig hoch, während sie die dunklen Stunden und Tage verdrängen. Oft erklären sie, dass sie darauf warten, dass die Beziehung endlich richtig beginnt und projizieren große Hoffnungen in die Zukunft. Stattdessen bleiben sie aber in einem Stadium stecken, dass sie unglücklich macht.
Ich empfehle Partner*innen von Beziehungsängstlichen zunächst einen Realitätscheck:
- Schreibe auf, was in deiner Beziehung gut und schlecht läuft.
- Überlege dir, wie viel Zeit du mit negativen Gedanken im Vergleich zu positiven Gefühlen verbringst.
- Denke darüber nach, was dich an deinem Partner stören würde, wenn die Bindungsangst keine Rolle spielen würde.
- Prüfe, ob die Versprechen deines Partners tatsächlich eingehalten wurden.
- Erinnere dich daran, dass die Realität das ist, was du bisher erlebt hast – und nicht nur das, was du dir erträumst.
- Hör auf, das Verhalten deines Partners zu entschuldigen oder zu rechtfertigen. Verständnis ist normalerweise lobenswert, aber in diesem Fall kann es dich davon abhalten, die wahren Schwächen deiner Beziehung zu sehen.
Tipp 2: Tritt klar für deine Rechte ein!
Viele Partner*innen eines bindungsängstlichen Menschen haben Angst, das brüchige Beziehungsband durch Konflikte zu belasten und sagen oft „Ja“, obwohl sie „Nein“ fühlen. Es ist nicht hilfreich, sich der oftmals verworrenen Kommunikation des Partners anzupassen und alles zu unterlassen, was ihn bzw. sie noch mehr verscheuchen könnte.
Mein Tipp lautet: Mach dich auch an dieser Stelle unabhängiger. Tritt klar für deine Rechte ein! Mach deinem Partner/deiner Partnerin ganz ruhig klar, was du willst und was für dich akzeptabel ist. Dein Partner möchte nicht mit auf eine Party? Geh allein! Du interessierst dich kein bisschen für ihr Hobby? Äußere, was du gerne machen möchtest! In einer gesunden Beziehung gibt es eine ausgewogene Verteilung bei solchen Punkten. Eine übermäßige Anpassungsbereitschaft macht dich selbst unglücklich und zum anderen unattraktiv!
Mach dich grundsätzlich frei von der Überzeugung, dass das Gelingen dieser Beziehung von deiner Anpassungsbereitschaft abhängt. Unterwürfigkeit rettet eine Beziehung nicht!
Tipp 3: Mach seine Probleme nicht zu deinen!
Ein Hauptsymptom bindungsgestörter Beziehungen ist die übermäßige gedankliche Beschäftigung mit den Problemen der Beziehungsängstlichen.
Viele Partner*innen von Bindungsängstlichen versuchen verzweifelt, das beständige „Jein“ zu entschlüsseln. Daran geknüpft ist nämlich die Hoffnung, dann etwas verändern zu können. Nach dem Motto: Wenn wir das Problem verstehen, können wir es auch lösen!
Mit diesem Verständnis verbindet sich oft auch Mitleid für die bindungsängstlichen Partner*innen: Wie soll er oder sie denn auch Bindungsfähigkeit erwerben können bei den Eltern?
Aber Achtung: Lass dich nicht in seine bzw. ihre Probleme verstricken!
Verständnis ist zwar an sich wunderbar, aber in diesem Fall verleitet es dich dazu, zu viel Verantwortung für die Beziehung zu übernehmen.
Mach dir immer wieder bewusst: Dein Partner bzw. deine Partnerin ist erwachsen und für seine Probleme selbst verantwortlich.
Es ist absolut nicht sinnvoll, jeden Gefühlsachterbahn-Looping eines bindungsängstlichen Menschen mitzufahren! Dabei besteht nämlich die Gefahr, sich in dieser Kompliziertheit zu verstricken und den Überblick über die eigene klare Linie zu verlieren.
Tipp 4: Kümmere dich mehr um dich selbst!
Durch den dauerpräsenten Leidensdruck, den man als Partner*in in einer bindungsgestörten Beziehung verspürt, wird die Beziehung leicht zum Lebensmittelpunkt und Lebensinhalt. Andere Interessen werden vernachlässigt, weil man nicht genug Energie hat und auch innerlich kein Raum verbleibt, um sich auf etwas Anderes zu konzentrieren. Wer dieser Beziehung eine Chance geben möchte, muss sich selbst stärken und aktiv ein Gegengewicht zum Thema „Beziehung“ zu schaffen! Hilfreiche Überlegungen sind deshalb: Wie würde ich meine Zeit füllen, wenn ich keine Beziehung hätte? Was verbessert meine Lebensqualität unabhängig von einer Beziehung? Gibt es eine Neigung oder eine berufliche Weiterentwicklung, die mich interessiert? Die Konzentration auf sinnvolle und glücklich machende Beschäftigungen hat mehrere Nebeneffekte, die Partner*innen in bindungsphobischen Beziehungen geradezu retten können:
- Sie leitet die Aufmerksamkeit von den Beziehungsproblemen weg und schafft somit einen gesunden emotionalen Abstand.
- Wenn die Beziehung viel Frustration verschafft, ist es für die emotionale Bilanz sehr wichtig, sich auf anderen Gebieten Erfolgserlebnisse zu verschaffen. Hierdurch wird die Abhängigkeit vom »Beziehungserfolg« gemildert. Der Erfolg auf anderen Gebieten stärkt das Selbstbewusstsein und wir kommen dadurch mit dem Partner bzw. der Partnerin mehr auf Augenhöhe.
Ganz wichtig: Das sollte kein heimlicher „Ich-es-dir-jetzt-mal-zeigen-Trip“ werden! Betroffene sollten ihrem Partner kommunizieren, warum sie sich mehr um sich selbst kümmern. Sie handeln nicht gegen den Partner, sondern für sich selbst!
Tipp 5: Hinterfrage ernsthaft, wie viel Hoffnung berechtigt ist.
Gibt es keine Hoffnung, dass die Beziehung mit einem Bindungsängstlichen irgendwann stabil und glücklich wird? Ich hätte meinen Beruf verfehlt, wenn ich von jeder Hoffnung abraten würde. Veränderung ist immer möglich – wenn man sie möchte. Wenn du also mit einem oder einer Bindungsängstlichen zusammen bist und dich fragst, ob es Hoffnung auf Veränderung gibt, empfehle ich dir, einen „Hoffnungsrealitätsabgleich“ durchzuführen.
Stelle dir folgende Fragen:
- Wie lange leidest du schon unter der Bindungsphobie deines Partners oder deiner Partnerin? Je länger, desto schwieriger wird es.
- Hat dein Partner oder deine Partnerin bereits mehrfach eine Veränderung versprochen, aber nichts ist passiert?
- Zeigt der bzw. die Bindungsängstliche überhaupt ein Problembewusstsein für die Bindungsängste? Oder werden sie abgestritten?
- Wie tiefgehend schätzt du die Probleme deines Partners bzw deiner Partnerin ein?
Das Ausmaß des Problems hat Einfluss darauf, wie wahrscheinlich eine Veränderung ist. Tiefe Bindungsstörungen sind schwerer zu überwinden. Setze dir also selbst einen Zeitrahmen und frage deinen Partner oder deine Partnerin offen nach der Bereitschaft zur Veränderung. Akzeptiere die Antworten und nimm sie ernst. Wenn der bindungsängstliche Part nicht bereit ist, etwas zu ändern, musst du das akzeptieren. Wenn du dennoch in der Beziehung bleiben möchtest, musst du an gesunder Distanz arbeiten. Du musst unabhängiger werden und deine eigenen Batterien aufladen. Loslassen ist oft die einzige Chance.