Beziehungsfähigkeit, Bindungsfähigkeit, Überwindung

Wut tut auch mal gut


Unser Wunsch nach Bindung einerseits und unser Willen zur Autonomie andererseits sind zwei in uns angelegte psychische Grundbedürfnisse, die einen Widerspruch darstellen. Denn damit ich meine Interessen behaupten kann, benötige ich eine gewisse Kampfbereitschaft, die der Bindung nicht zuträglich ist. Warum Wut dennoch ein notwendiges Gefühl ist.

Der eine Partner schläft sonntags gern aus und lässt den Tag auf sich zukommen, den anderen treibt es frühmorgens zu Aktivitäten wie sonntäglichen Ausflügen. Die Mutter will, dass das Kind ins Bett geht, das Kind will aber noch spielen. Das Unternehmen führt eine Umstrukturierung durch, die den Mitarbeitern gar nicht gefällt. In den unterschiedlichsten Situationen stehen wir vor der Frage: Passe ich mich an oder setze ich mich durch?

Während es für die Bindung wichtig ist, dass wir unsere eigenen Bedürfnisse ab und zu nach hinten schieben, damit wir uns besser anpassen können, so benötigen wir für die Autonomie einen guten Draht zu unseren Gefühlen. Ansonsten fällt es uns schwer, eine Entscheidung zu treffen. Gefühle verleihen dem, was ich tue, und dem, was mir widerfährt, eine Bedeutung. Gefühle zeigen die Richtung an, in die ich gehen möchte. Sie signalisieren, dass ich mich annähern kann, wenn sich etwas gut anfühlt und sie warnen mich, dass ich etwas vermeiden sollte, wenn es sich schlecht anfühlt. Sogar Entscheidungen, die ich scheinbar aus reiner Vernunft treffe, haben eine gefühlsbasierte Komponente. Denn auch bei einer rationalen Entscheidung gibt letztlich ein gutes Gefühl den Ausschlag.

Dabei ist unser Gefühl hier keine Herzensangelegenheit ist, sondern Kopfsache. Es ist die Summe einer gigantischen, unbewussten Rechenleistung des Gehirns und deshalb eine äußerst hilfreiche Richtschnur für Entscheidungen, fand der niederländische Sozialpsychologe Prof. Ap Dijksterhuis von der Radboud University Nijmegen heraus. Der unbewusste Teil unseres Gehirns verarbeitet nämlich Informationen etwa 300 000-mal schneller als unser Bewusstsein.

Was will ich eigentlich?

Damit ich für mich eintreten, meine Interessen behaupten und ein selbstbestimmtes Leben führen kann, benötige ich außer eigenen Zielen auch eine gewisse Durchsetzungskraft. Ich benötige eine Art Kampfbereitschaft, die im ersten Schritt voraussetzt, dass ich überhaupt weiß, was ich will. Denn während es bei der Bindung immer um die Frage geht „Was haben wir gemeinsam?“, dreht sich bei der Autonomie alles um die Frage „Was unterscheidet uns?“

Hier liegt also der Fokus auf meinen individuellen Bedürfnissen und Zielen, die mich von einem anderen Menschen oder der Gemeinschaft trennen. Wobei es vor allem drei Fähigkeiten sind, die für die Autonomie notwendig sind:

  • Eigene Gefühle und Bedürfnisse spüren
  • Entscheidungen treffen, sich Ziele setzen
  • Sich durchsetzen und kämpfen können

Auch wenn ich weiß, was ich will und wohin die Reise gehen soll, heißt das aber noch lange nicht, dass meine Wünsche mit denjenigen meiner Umgebung konform gehen. Dazu stoßen eben viel zu häufig viel zu unterschiedliche Interessen aufeinander. Und genau aus diesem Grund benötige ich für ein selbstbestimmtes Leben, außer eigenen Zielen, auch eine gewisse Durchsetzungskraft. Doch während uns die Natur sehr viele Gefühle mitgegeben hab, damit wir uns an andere Menschen binden, hat sie uns für die Durchsetzung unserer autonomen Interessen nur ein Gefühl reserviert: die Aggression. Ohne ein gewisses Maß an gesunder Aggression bin ich nicht in der Lage, für mich einzutreten.

Die zwei Gesichter der Aggression

In der Psychologie unterscheidet man die passive von der aktiven Aggression. Die aktive Aggression ist als solche gut erkennbar: Klar argumentieren, laut werden, streiten oder auch zuschlagen sind aktiv-aggressive Verhaltensweisen. Die passive Aggression ist hingegen verdeckter, deswegen spricht man auch vom passiven Widerstand. Zielt die aktive Aggression auf den Angriff, so ist das Wesen der passiven Aggression die Verweigerung. Den anderen auflaufen lassen, mauern, dichtmachen, trödeln oder auch zu spät kommen, sind Spielarten der passiven Aggression. Menschen, die häufig passiv-aggressiv agieren, könnte man mit den Attributen stur, störrisch oder dickschädelig beschreiben. Will heißen, sie sind wenig kompromissbereit.

Jeder Mensch agiert hin und wieder sowohl passiv als auch aktiv aggressiv. Manchmal machen wir einfach dicht, ein anderes Mal hauen wir auf den Putz. Das hängt – wie so oft im Leben – von der Berechnung unserer persönlichen Chancen ab. Bei einem stärkeren Gegenüber zieht man sich vielleicht zurück und übt sich im passiven Widerstand. Befindet sich das Gegenüber hingegen auf Augenhöhe oder wähnen wir uns sogar überlegen, dann wagen wir den Angriff. 


Von der Notwenigkeit eines Gefühls

Aggression und Wut haben gesellschaftlich betrachtet keinen guten Ruf. Der Grund ist, dass Wut Menschen – zumindest vorübergehend – voneinander trennt. Das kommt in dem Wort aus-einander-setzen zum Ausdruck. Wenn wir wütend sind, verbreiten wir schlechte Stimmung, und keiner bekommt gern die Wut eines anderen ab. Zudem kann Wut in Hass und Gewalt gipfeln, was auch nicht zum guten Image dieser Emotion beiträgt. Und natürlich haben Aggressionen auch eine zerstörerische, verletzende Seite. Aber eben nicht nur. Sie können auch als Energie eingesetzt werden, um Probleme zu lösen oder uns aus heiklen Situationen zu retten. Dann bringen sie uns weiter. Oder eben wenn es darum geht, unsere Interessen durchzusetzen und unsere Autonomie zu schützen.

Psychologisch betrachtet ist Wut deshalb auch ein überlebenswichtiges und unbedingt notwendiges Gefühl. Es ermöglicht uns, unsere Grenzen und Interessen zu schützen. Wer einen guten Umgang mit seiner Wut erlernt hat, ist vital und durchsetzungsfähig. Wut verleiht uns Stärke und Lebendigkeit. „Kein Mensch fasst willentlich den Entschluss, sich zu ärgern; niemand denkt: Jetzt will ich wütend werden. Ebenso wenig plant die Wut ihr Entstehen“, sagt der Dalai Lama und macht damit deutlich, dass die Wut eben kommt, wenn sie empfunden werden will. Das gleiche gilt für die allermeisten anderen, von uns als weniger angenehm empfundenen Gefühle wie Angst, Trauer, Scham oder Schuld. Sie alle erinnern uns daran, dass das Leben kostbar ist, denn ein JA zu unseren Emotionen ist schließlich auch ein JA zum Leben.

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Wie sieht eigentlich eine glückliche Beziehung aus?

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