Inneres Kind

Kennst du dein Schattenkind?

Manchmal reagieren wir in alltäglichen Situationen ungewöhnlich heftig, ohne genau zu verstehen, warum. Oft sind es tief verwurzelte Kindheitsmuster, die unser Verhalten unbewusst steuern. Wenn wir unser „Inneres Kind“ – insbesondere das „Schattenkind“ – kennenlernen, können wir diese alten Prägungen erkennen und gezielt verändern, um bewusster und freier zu leben.

Vielleicht hast du das schon erlebt: Alles läuft gut, der Tag ist schön, die Laune ist prima – und dann, zack, kippt die Stimmung bei dir. Plötzlich wirst du wütend, fühlst dich unsicher oder sogar ängstlich. Später, wenn du darüber nachdenkst, fragst du dich: Woher kamen diese Gefühle? Warum habe ich so heftig reagiert?

Ein Streit wegen einer Kleinigkeit

In meiner Praxis habe ich ein Paar beraten, das wegen einer scheinbar kleinen Sache in einen riesigen Streit geriet. Sabine – sie heißt in Realität natürlich anders – hatte beim Einkaufen vergessen, ihrem Mann Michael seine Lieblingswurst mitzubringen. Kann passieren, würde man meinen. Aber Michael flippte regelrecht aus. Für ihn war diese Vergesslichkeit keine Lappalie, für ihn war sie ein Zeichen: Sabine dachte nicht an ihn.

Das „Schattenkind“ tritt in Aktion

Eine ganz schön überzogene Reaktion? Sicherlich. Andererseits haben wir alle schon solche oder ähnliche Momente durchlebt. Dahinter steckt oft unser „Schattenkind“, das in solchen Momenten zum Vorschein kommt und unser Verhalten dominiert. Dieses „Schattenkind“ ist in meinem therapeutischen Ansatz ein Symbol für unsere negativen Kindheitsprägungen, es ist ein Anteil unseres „Inneren Kindes“.

Was ist das „Innere Kind“?

Unter dem „Inneren Kind“ versteht man die Summe aller Kindheitsmuster. In anderen therapeutischen Ansätzen wird das „Innere Kind“ in sehr viele Instanzen aufgesplittet, es gibt dann zum Beispiel das ängstliche, das glückliche, das wütende, das unsichere oder das verletzte Kind. Bei mir gibt es neben dem „Schattenkind“ noch das „Sonnenkind“, das alles Positive verkörpert, was wir von unseren Eltern mitbekommen haben. Es ist aber auch ein Sinnbild für all das, was wir uns in unserem Erwachsenenleben selbst neu gestalten können.

Das „Erwachsenen-Ich“ und seine Rolle

Daneben gibt es noch das „Erwachsenen-Ich“. Das ist der Teil von uns, der rational denkt, bewusst handelt und Entscheidungen trifft. Unser Erwachsenen-Ich hat die Aufgabe, das Innere Kind – also sowohl das Schattenkind als auch das Sonnenkind – zu regulieren. Warum gelingt es uns trotz dieser erwachsenen Instanz manchmal nicht, angemessen zu handeln?

Unbewusste Prägungen und ihre Macht

Unser „Schattenkind“ kann auf der unbewussten Ebene sehr mächtig sein. Es beeinflusst unser Selbstbild, unsere Wahrnehmung und damit unser Verhalten, oft ohne dass wir es merken. Je weniger wir uns dessen bewusst sind, desto weniger können wir gegensteuern. Deshalb ist es wichtig, dass wir unser Schattenkind kennenlernen. Wenn wir wissen, welche Erfahrungen uns geprägt haben, können wir auch erkennen, welche Situationen uns triggern – also alte Wunden aufreißen.

Ein Beispiel: Michaels Kindheit und seine Reaktionen

Auch Michael, der Mann aus meinem Beispiel, hatte nicht auf die objektiven Fakten reagiert. Stattdessen interpretierte er das Ereignis durch die Brille seiner Kindheitserfahrungen. Michael wuchs in einer Familie auf, in der die Eltern viel arbeiteten und wenig Zeit für ihre Kinder hatten. Er fühlte sich oft übersehen und kam zu dem Glaubenssatz „Ich bin nicht wichtig“. Als Sabine dann seine Lieblingswurst vergaß, löste das in ihm genau dieses alte Gefühl aus: „Ich bin nicht wichtig.“

Was das Schattenkind wirklich bedeutet

Solche und ähnliche Überzeugungen unseres Schattenkinds sind aber keine Charakterfrage, sie haben nichts mit uns selbst zu tun. Jeder von uns hat in der Kindheit bestimmte Überzeugungen entwickelt, die oft zufällig entstanden sind. In den ersten Lebensjahren entwickelt sich unser Gehirn stark, und in dieser Zeit prägen uns die Erfahrungen, die wir mit unseren Eltern und unserer Umgebung machen stark. Wären die Umstände anders gewesen, hätten wir andere Überzeugungen entwickelt und andere Schutzstrategien aufgebaut.

Schutzstrategien und ihre Folgen

Diese Schutzstrategien können uns im Erwachsenenleben oft im Weg stehen. Wenn unser „Schattenkind“ zum Beispiel die Angst zu versagen in sich trägt, entwickelt es als Gegenreaktion ein ausgeprägtes Perfektions- oder Kontrollstreben. Diese Strategien sollen uns schützen, kosten aber viel Energie und führen oft zu Problemen, weil sie uns daran hindern, flexibel und angemessen auf verschiedene Situationen zu reagieren. Die Energie, die wir aufwenden, um bestimmte Gefühle zu unterdrücken, kostet uns oft mehr Kraft, als sich ihnen zu stellen und sie zu verarbeiten. Es ist wie bei einem Ball, den wir unter Wasser drücken: Früher oder später wird er mit umso mehr Wucht wieder auftauchen. Es lohnt sich also, mit der Verdrängung aufzuhören und mit der Verarbeitung zu beginnen.

Wie Therapie helfen kann

Viele Menschen befürchten zu Unrecht, dass eine Therapie anstrengend und schmerzhaft ist. In den meisten Fällen ist es nicht nötig, die gesamte Kindheit aufzuarbeiten. Das kann im Gegenteil sogar kontraproduktiv sein, weil das Gehirn dadurch immer mehr auf die negativen Erfahrungen fokussiert. Es reicht absolut, wenn man den roten Faden versteht, also eine grundsätzliche Idee davon entwickelt, welche Prägung man erfahren hat. Hat man diesen ersten Schritt geschafft, kann man beginnen, die alten dysfunktionalen Muster durch neue, hilfreiche Verhaltensweisen zu ersetzen.

Erfolg durch Selbstbeobachtung

Bei vielen Menschen funktioniert dieser Prozess erstaunlich gut, oft ist er sogar leichter als erwartet. Mein ehemaliger Klient Michael zum Beispiel hat gelernt, mit verschiedenen Übungen sein Schattenkind von seinem Erwachsenen-Ich zu trennen. Dadurch konnte er erkennen, wann er in alte Muster verfiel, und bewusst umschalten, um angemessener zu reagieren. Heute führen Situationen wie die beschriebene bei ihm und Sabine nicht mehr zu Konflikten – es geht also nicht mehr um die Wurst.

Fazit: Sich selbst besser verstehen

Wenn wir uns mit unserem Schattenkind auseinandersetzen, gewinnen wir die Freiheit, unser Leben bewusster und selbstbestimmter zu gestalten. Es ist ein Weg, der uns nicht nur hilft, innerlich ruhiger zu werden, sondern auch unsere Beziehungen und unser Selbstbild positiv zu verändern. Ausführliche Erklärungen und Tipps dazu findest du in meinem Ratgeber „Das Kind in dir muss Heimat finden“.

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Glaube nicht alles, was du denkst

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